Totalsanktionen im Bürgergeld: Befristung ist Erfolg, verfassungsrechtliche Bedenken bleiben

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Zur Einigung über die Streichung des kompletten Regelbedarfs im Bürgergeld für „Totalverweigerer“ im Rahmen des Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 erklärt Stephanie Aeffner, Berichterstatterin für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen:

„Wir müssen dringend aufhören, das Bild von einem Heer an Arbeitslosen zu zeichnen, das man mit Druck zur Arbeit zwingen muss! Unsere Demokratie und eine ihrer wesentlichen Errungenschaften – das Sozialstaatsprinzip – drohen sonst sehr bald, im Feuer von Fake-News und Hetze gegen bestimmte Gruppen zu Asche zu verbrennen. Für den Großteil der Erwerbslosen ist Arbeitslosigkeit eine vorübergehende Krise, aus der sie sich sehr schnell selbst wieder herausarbeiten. 80 Prozent der Menschen, die erwerbslos werden, finden innerhalb von zwei Jahren eine neue Stelle; nach drei Jahren sind es fast 90 Prozent. Das Bürgergeld ist eine finanzielle Absicherung für uns alle im Notfall.

Für Menschen, die von Bürgergeld leben, sind Leistungskürzungen immer ein äußerst harter Eingriff in ihre Existenzsicherung und ihre Menschenwürde. Die bloße Möglichkeit der Sanktion belastet und stigmatisiert auch die große Mehrheit derjenigen, die ihren Verpflichtungen jederzeit vollumfänglich nachkommen. Das sind über 95 Prozent.

Ich bin erleichtert, dass wir Grüne zwei Änderungen am Gesetzentwurf von Bundeminister Heil durchsetzen konnten: Auf Kabinettsebene konnten wir erreichen, dass der Regelsatz erst dann komplett gestrichen werden kann, wenn bereits zuvor eine Sanktion wegen einer Pflichtverletzung erfolgt ist. Der ursprüngliche Entwurf hatte vorgesehen, dass bereits bei der ersten Ablehnung eines Arbeitsangebotes eine Totalsanktion erfolgen kann. Im parlamentarischen Verfahren konnten wir gegenüber unseren Koalitionspartnern durchsetzen, dass die Regelung nur befristet für zwei Jahre gilt und evaluiert wird.

Dennoch bleibt diese Reglung für uns verfassungsrechtlich fragwürdig. Denn das Bundesverfassungsgericht hat 2019 in seinem Urteil zu Sanktionen klar formuliert, dass eine komplette Leistungseinstellung nur erfolgen darf, wenn die angebotene Arbeit existenzsichernd ist. Das berücksichtigt der Gesetzentwurf nicht. Auch deshalb stellt die Einigung für uns einen äußerst harten Kompromiss dar. Fachlich lehne ich die Regelung ab.

Von allen, die sich die letzten Monate an der Stimmungsmache gegen Arbeitslose beteiligt haben, erwarte ich, dass sie diesem Feuer endlich, wenn auch sehr spät, keine Nahrung mehr geben. Wir haben aktuell kein nachweisbares Problem mit massenhafter Arbeitsverweigerung oder Sozialleistungsbetrug, sondern mit verhetzendem und spalterischem Populismus. Mit der Ausgrenzung einer Gruppe fängt es an. Aber dabei bleibt es nicht. Wir alle müssen verhindern, dass wir eines Tages aufwachen und unsere Demokratie und der gesellschaftliche Frieden der Vergangenheit angehören.“

HINTERGRUND

Voraussetzung für die volle Streichung des Regelbedarfs ist, dass innerhalb des letzten Jahres bereits eine Leistungsminderung aufgrund einer Pflichtverletzung erfolgt ist. Es besteht das Recht auf eine vorherige persönliche Anhörung. Des Weiteren muss zuvor ausgeschlossen werden, dass ein Härtefall vorliegt oder dass die betroffene Person einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen kann. Das verweigerte Arbeitsangebot muss zumutbar sein, konkret bestehen und jederzeit angenommen werden können. Es besteht die Möglichkeit der nachträglichen Mitwirkung. Die Kosten der Unterkunft und Heizung werden nicht gekürzt, um Wohnungslosigkeit zu verhindern. Mehrbedarfe werden ebenfalls nicht gekürzt. Die Kürzung ist auf maximal zwei Monate begrenzt.