Rede bei der Orientierungsdebatte zur Impfpflicht

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich denke, wir führen Debatten, um Argumente abzuwägen, auszutauschen und verschiedene Aspekte einzubringen, und ich glaube, niemand hier in diesem Hause kann für sich in Anspruch nehmen, dass er alle Aspekte dieser Debatte jeweils erfasst hat.

Deshalb sind Zuhören und Aufeinandereingehen so wichtig. Von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen, wäre es schön, wenn wir auch das hörten, was Sie sich denn wünschen, und nicht nur das, wovon Sie meinen, dass es an dem Verfahren nicht gut ist.

Die Abwägung über die Impfpflicht ist keine leichte Entscheidung. Es wird immer wieder das Argument der Freiheitsrechte, das Recht auf körperliche Unversehrtheit angeführt. Wer aber redet eigentlich von dem Recht auf körperliche Unversehrtheit all der Menschen, die schwerwiegende Vorerkrankungen haben und deren Teilhaberechte in den letzten zwei Jahren so massiv eingeschränkt worden sind?

Sie können jetzt sagen: Ja, ist vielleicht nicht so relevant, ist vielleicht nur eine kleine Gruppe. – Weit gefehlt! Es sind circa 25 bis 30 Prozent unserer Bevölkerung, die relevante Risikofaktoren haben; es ist also keine kleine Gruppe.

Es geht nicht nur um Menschen über 65 – auch das ist schon eine besonders große Gruppe -, sondern beispielsweise um Menschen mit chronischen Lungenerkrankungen, Diabetes oder Herzerkrankungen.

Es gibt noch eine Gruppe von Menschen, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, diejenigen mit sogenannter Immunsuppression, bei denen das Immunsystem entweder aufgrund einer Erkrankung oder aufgrund der Behandlung einer Erkrankung Infektionen nicht entsprechend bekämpfen kann. All diese Menschen sind darauf angewiesen, dass möglichst wenig an Virusherden in unserer Gesellschaft zirkuliert.

Besonders hart getroffen hat die Pandemie Familien mit Kindern mit schweren Vorerkrankungen und Behinderungen. Nicht nur diese Kinder sind betroffen, sondern auch ihre Geschwister und ihre Eltern. Viele von ihnen leben seit zwei Jahren in Isolation, besuchen nicht mehr die Schule, können nicht mehr teilhaben. Was ist mit deren Recht auf Teilhabe an Bildung?

Was ist mit dem Recht der Kassiererin, die eine schwere chronische Lungenerkrankung hat und nicht in der Lage ist, acht Stunden mit Maske zu arbeiten, und gleichwohl auf besonderen Schutz angewiesen ist? Was sagen wir ihr denn, wenn Kolleginnen und Kollegen sich nicht impfen lassen? „Dann kannst du halt nicht mehr arbeiten gehen; dann hast du halt kein Recht mehr, deinen Lebensunterhalt zu verdienen“? Das sind die Fragen, auf die wir Antworten finden müssen.

Alle, von denen ich gesprochen habe, sind darauf angewiesen, dass wir insgesamt hohe Impfquoten haben. Nur dann bleibt ihnen die Chance, eine Infektion für sich zu verhindern. Aktuell haben sie nur die Wahl, entweder ein Risiko einzugehen oder nicht teilzuhaben.

Es ist das Virus, was uns vieles wegnimmt, und wir diskutieren darüber, wie wir aus dieser Situation wieder herauskommen. Deshalb komme ich in der Abwägung zu dem Schluss, dass wir eine allgemeine Impfpflicht ab 18 brauchen.

Denn eine Impfpflicht, die altersbezogen ist, löst genau das Problem nicht, dass wir nach wie vor Räume in unserer Gesellschaft haben, wo viele ungeimpfte Menschen sind. Dann kann sich jemand aus all diesen Gruppen, die ich dargestellt habe, in keinerlei Gruppe aufhalten, wo Menschen unter 50 sind, wo viele Ungeimpfte sich aufhalten. Das ist für mich die Abwägung. Denn Politik hat nicht nur die Aufgabe, Freiheit als absoluten Begriff zu verteidigen, sondern wir müssen unser Zusammenleben so gestalten, dass wir möglichst Teilhabe für alle Teile unserer Gesellschaft garantieren.