Rede zur aktuellen Stunde „Armut in Deutschland“

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die letzte Debatte vor der Sommerpause nimmt eines der drängendsten Probleme aktuell ins Visier: Armut. Ich bin froh, dass wir noch die Gelegenheit haben, uns mit dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes zu beschäftigen; denn die Befunde sind erschreckend. So ist es auch nicht verwunderlich, dass unter den betroffenen Menschen der Zorn wächst.

„Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht!“ Mit diesen Worten beginnt denn auch der erste Tweet unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen. Unter diesem Hashtag kann man von vielen Ausgrenzungserfahrungen, von Not und von echter Angst lesen. Ich bin sehr dankbar, dass sich diese Menschen organisieren und ihre Stimme erheben. Und ich bin auch dankbar, dass diese Menschen bereit waren, mit mir einen Austausch zu starten. Ihre Erfahrungen sind die persönlichen Gesichter dessen, was wir im Armutsbericht des Paritätischen lesen können. Zusammen wird eines sehr klar: Wir müssen jetzt handeln.

Wir haben ein Armutsproblem, und das nicht erst seit der Pandemie und den stetig steigenden Preisen durch den Angriffskrieg auf die Ukraine. Vielmehr haben die letzten zwei Jahre die Situation dramatisch verschlimmert. 13,8 Millionen Menschen leben in Armut, so viele wie noch nie. Das sind 600 000 mehr als vor der Pandemie.

Doch die Auswirkungen der Pandemie und Inflation treffen nicht alle gleich. Dem einen fallen 30 Cent mehr für das Brot beim Einkauf überhaupt nicht auf. Für manche bringt das den detailliert geplanten Wocheneinkauf komplett durcheinander. Menschen mit geringen Einkommen treffen die steigenden Preise besonders hart. Für viele ist das nicht nur vorübergehend.

Einen großen Teil der Menschen in Armut machen die sogenannten Nichterwerbspersonen aus: Zwei Drittel! Das sind vor allem Alters- und Erwerbsminderungsrentner/-innen, unter 18-Jährige oder auch andere Personen, die dem Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zur Verfügung stehen, zum Beispiel, weil sie Angehörige pflegen. Diese Personen können wir nicht über arbeitsmarktorientierte Maßnahmen aus der Armut holen.

Wir brauchen eine umfassende Strategie, um konsequent am Ziel der Armutsabschaffung zu arbeiten. Wir brauchen eine Wohnungs- und Mietenpolitik, die dem Rechnung trägt. Öffentlicher Verkehr ist nicht nur klimagerecht; er ist auch sozialgerecht. Doch er muss ausgebaut werden und bezahlbar sein.

Krankheit und Pflegebedürftigkeit dürfen nicht länger arm machen, und genauso brauchen wir Sozialleistungen, die die Würde achten und soziale Teilhabe sicherstellen.

Letzten Freitag habe ich in einem Twitter-Space über zweieinhalb Stunden mit Menschen gesprochen, die schon jetzt armutsbetroffen sind. Die Geschichten, die sie erzählen, machen sprachlos. Sie können ihre Ausgaben für Kinder, Gesundheit, Lebensmittel, Mobilität und lebensnotwendige Waren nicht mehr bezahlen. Die Not ist überall zu spüren.

Die Organisatoren des Twitter-Space führen immer wieder Umfragen durch. Im Jahr 2022 sagen über 80 Prozent der Teilnehmer/-innen, dass sie mit dem Regelsatz nicht auskommen, um ihre Lebensmittelkosten zu decken. Bei 65 Prozent reicht er nicht für eine ausreichende Gesundheitspflege, und bei über 80 Prozent reicht er nicht, die Stromkosten zu zahlen.

Mit der Einführung des Bürgergeldes müssen wir endlich einen echten Wandel einleiten. Wir haben drei Aufgaben:

Wir müssen jetzt die Folgen der Inflation auffangen. Deshalb brauchen wir in einem weiteren Entlastungspaket einen Aufschlag auf die Regelsätze, der die Preissteigerungen seit Juni 2021 auffängt.

Die Ermittlung der Regelsätze hat aber ein ganz grundsätzliches Problem. Weil sie immer die Vergangenheit betrachtet, ist die Inflation des laufenden Jahres nicht abgebildet. Deshalb brauchen wir eine Reserve für Preissteigerungen im Regelsatz.

Genauso müssen wir ganz grundsätzlich etwas am System ändern. Das zukünftige Bürgergeld muss deutlich höhere und inflationsfeste Regelsätze umfassen. Es ist deswegen gut, dass wir heute hier über dieses Problem sprechen.

Wir können alle mithelfen, um die Menschen und die Ärmsten in diesem Land schnell und zielgerichtet zu unterstützen. Hören wir auf die, die es betrifft!

Vielen Dank.