Debatte im Bundestag zu einem Antrag der Union.
Meine Rede im Video:
Video Parlamentsfernsehen Deutscher Bundestag
Redetext:
„Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich würde mich freuen, wenn der demokratische Teil dieses Hauses einmal innehielte und wir uns anschauten, welche Gefahren gerade in diesem Land drohen und wohin diese Debatten uns bringen. Ich mache mir Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, um unseren Sozialstaat, dessen Versprechen auf ein soziales Netz, das Menschen in Krisen auffängt, immer mehr angegriffen wird, und letztlich um unsere Demokratie. Wann ist Schluss damit, immer neue Brandherde zu legen, immer mehr Öl ins Feuer zu gießen?
Wir haben diese Woche im Bundestag die Verlängerung des Bezugs von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 18 auf 36 Monate beschlossen. Wir haben diese Woche im Haushaltsausschuss beschlossen, dass der Regelsatz des Bürgergelds komplett gestrichen werden kann für Menschen, die eine angebotene Arbeit nicht aufnehmen. Worauf aber niemand in all diesen Debatten schaut, ist, was die Stellung von immer weiter gehenden Forderungen für all die Menschen bedeutet, die berechtigt diese Leistungen beziehen und die einen Anspruch auf Unterstützung durch unseren Sozialstaat haben. Jetzt werden Grundgesetzänderungen gefordert. – Okay, man kann auch die Ewigkeitsklausel in der Verfassung ignorieren, aber das lassen wir mal beiseite.
Die komplette Streichung des Bürgergeldes, Zwangsarbeit wird gefordert. Die Verteilung von Bezahlkarten für Asylbewerberleistungsberechtigte soll jetzt auch auf Analogleistungsberechtigte ausgeweitet werden usw. Was ist mit all denen, die immer weitermachen? Anscheinend ist eines völlig egal: die Folgen der Gesetzesänderungen für die Gesamtgesellschaft, die Stigmatisierung und Entmenschlichung bestimmter Gruppen.
Es wird das Bild eines Heeres von Arbeitslosen gezeichnet, als wären die Menschen im Bürgergeldbezug immer die gleiche Gruppe.
Völlig falsch: Arbeitslosigkeit ist eine vorübergehende Krise im Leben von Menschen.
– Darf ich jetzt ausreden?
Wenn Menschen arbeitslos werden, sind in der Regel 60 Prozent nach einem Jahr wieder in Arbeit. Nach zwei Jahren sind 80 Prozent wieder in Arbeit, nach drei Jahren knapp 90 Prozent.
Dennoch tun wir in der Debatte ums Bürgergeld so, als müssten wir Menschen in Arbeit zwingen. Wenn wir so weitermachen, ist irgendwann nichts mehr übrig von unserem sozialen Auffangnetz.
Wenn aber Menschen, die heute selber hetzen, in Problemlagen geraten, dann gibt es plötzlich Entschuldigungen und in der eigenen Lebenssituation immer Erklärungen, warum man nichts dafür kann, während alle anderen an ihrem Schicksal selber schuld sind.
Bei Geflüchteten passiert genau das Gleiche. Es gibt immer weitere Forderungen nach Abschreckung. Immer wieder wird Dänemark zitiert. Wenn man sich das anguckt, sieht man: Es hat in Dänemark marginale Auswirkungen gehabt, die Sozialleistungen abzusenken. Durch die Abschreckung sind nämlich nur marginal weniger Menschen gekommen. Es hat aber auf etwas ganz anderes wesentliche Auswirkungen, nämlich auf die Geflüchteten, die im Land sind.
Schauen wir uns unsere Situation mal an: Wir haben 2022 rund 482 000 Menschen im Asylbewerberleistungsbezug gehabt. Die bereinigte Schutzquote in Deutschland beträgt 90 Prozent. 80 Prozent der ausreisepflichtigen Menschen erhalten eine Duldung.
Unter den Hauptländern sind Afghanistan, Irak und Iran. Ist es nicht auch die Union, die sich immer wieder hinstellt und „Jin, Jiyan, Azadî“ ruft und sagt: „Wir müssen die Frauen im Iran unterstützen“? Und wenn sie eine Duldung erhalten, dann ist das plötzlich nicht mehr in Ordnung? Wo ist denn da die Solidarität?
Der überwiegende Teil aller Schutzsuchenden hier im Land hat ein Aufenthaltsrecht, und der überwiegende Teil bleibt hier.
Daher muss unser Ziel doch sein, dass wir Menschen in diesem Land integrieren, dass wir ihnen Teilhabe ermöglichen, dass wir ihnen Arbeitsintegration ermöglichen. Mit all diesen weiter gehenden Forderungen wird genau das immer schwerer.
Die Asylbewerberleistungen sind um 100 Euro niedriger als das Bürgergeld. 100 Euro bei einem so geringen Betrag bedeutet, dass Menschen weniger in Vereine gehen; sie sollen ja Ihrer Meinung nach nicht mal mehr Zeitung lesen. Sie können keine Kontakte knüpfen, sie können nicht in der Gesellschaft ankommen. Schauen wir auf Kinder: Drei Jahre Asylbewerberleistungsbezug, was bedeutet das für ihre Bildungschancen? All das ist egal. Es hilft den Menschen in diesem Land null, wenn wir Integration behindern, anstatt sie zu befördern.
Ich wünsche mir wirklich, dass wir in dieser Debatte endlich innehalten und die ganze Gesellschaft nicht weiter in Brand setzen. Das macht mir große Sorgen.“