Persönliche Erklärung zur Einführung von Totalsanktionen im Bürgergeld

Gemeinsame persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Haushaltsausschusses (Drucksache 20/10150) im Rahmen der zweiten und dritten Beratung des von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 (Drucksache 20/9999)

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 zum Zweiten Nachtragshaushalt 2021 erforderte weitreichende Änderungen am Haushalt 2024. Diese werden heute im Bundestag beschlossen. Im parlamentarischen Verfahren konnten wir viele Verbesserungen des Regierungsentwurfs erreichen.

Im heute ebenfalls abzustimmenden zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetz wird allerdings das Sozialgesetzbuch II um die Möglichkeit ergänzt, den kompletten Regelbedarf zu streichen, wenn Arbeitslose ein konkret vorliegendes, zumutbares Arbeitsangebot ohne wichtigen Grund ausschlagen.

Die Wiedereinführung von 100%-Sanktionen ist in meinen Augen auch eine Reaktion auf eine aufgeheizte populistische Debatte, die beständig Fakten ignoriert. Seit Monaten wird Stimmung gegen erwerbslose Menschen gemacht, allen voran von Seiten der Unionsspitzen. Sie zeichnen das Bild eines Heeres von arbeitslosen Menschen, die sich nur mit Druck zur Arbeit zwingen ließen oder sogar bewusst ihre Arbeit kündigen würden, um Bürgergeld zu beziehen. Beides ist nachweislich falsch: Noch nie waren mehr Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, es gibt keinerlei Belege für vermehrte Kündigungen.

Wir halten es für gefährlich, auf diese Debatte mit einer Verschärfung von Sanktionen zu reagieren. Denn der Versuch, die aufgeheizte Stimmung so zu befrieden, bestätigt indirekt nur das falsche Bild.

Für Menschen, die von Bürgergeld leben, sind Leistungskürzungen immer ein äußerst harter Eingriff in ihre Existenzsicherung und ihre Menschenwürde. Die bloße Möglichkeit der Sanktion belastet und stigmatisiert auch die große Mehrheit derjenigen, die ihren Verpflichtungen jederzeit vollumfänglich nachkommen. Das sind über 95 Prozent. Bei den meisten Versäumnissen handelt es sich um nicht eingehaltene Termine, in den allerseltensten Fällen um willentliche Arbeitsverweigerung. Nur 30 Prozent der 5,7 Mio. Menschen, die Bürgergeld erhalten, damit aufstocken oder ergänzen, sind wirklich ohne Beschäftigung. Darüber hinaus finden 80 Prozent der Menschen, die erwerbslos werden, innerhalb von zwei Jahren eine neue Stelle; nach drei Jahren sind es fast 90 Prozent. – In Anbetracht der Fakten muss also klar werden: Bei „Totalverweigerern“ handelt es sich um eine äußert kleine Gruppe, die haushalterisch kaum ins Gewicht fällt.

Sanktionen treffen vorrangig Menschen, die psychisch erkrankt sind, nicht ausreichend lesen können und/oder nicht gut Deutsch sprechen. Besonders betroffen sind diejenigen, bei denen diese Probleme dem Jobcenter nicht bekannt sind, z. B. aus Scham. Sanktionen, insbesondere Totalsanktionen, verschärfen die Probleme dieser Menschen. Sie können zu Stromsperren, Verschuldung, bitterer Existenznot, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit führen. Darunter leiden nicht nur die sanktionierten Personen, sondern immer auch die anderen Menschen in der Bedarfsgemeinschaft – auch Kinder.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 in seinem Urteil zu Sanktionen klar formuliert, dass eine komplette Leistungseinstellung nur erfolgen darf, wenn die angebotene Arbeit existenzsichernd ist. Das heißt, die betroffene Person wäre durch die Arbeitsaufnahme nicht länger auf Unterstützungsleistungen angewiesen. Das berücksichtigt der Gesetzentwurf nicht. Damit droht, dass Menschen wieder vermehrt gezwungen werden, perspektivlose Jobs im Niedriglohnsektor anzunehmen. Das wird dem Anspruch der Bürgergeldreform, erwerbslose Personen so zu fördern und zu qualifizieren, dass sie langfristig und nachhaltig in Arbeit integriert und finanziell unabhängig werden, nicht gerecht.

Immerhin konnten wir Grüne zwei Änderungen am Gesetzentwurf durchsetzen: Der Regelsatz darf nur dann komplett gestrichen werden, wenn im vorausgegangenen Jahr bereits eine Sanktion wegen einer Pflichtverletzung erfolgt ist. Zudem läuft die Regelung nach zwei Jahren aus und wird evaluiert.

Dennoch ist die Wirkung dieser Totalsanktionen gerade auch auf die Menschen, die stets mit ganzer Kraft an der Überwindung ihrer Arbeitslosigkeit arbeiten, fatal, weil alle Bürgergeld-Bezieher*innen stigmatisiert werden. Zudem besteht die Gefahr, dass Menschen aus Angst in unzumutbaren Arbeitsbedingungen verharren und in der Folge langfristig erkranken. Daher können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.